Verliebt in den Freund der eigenen Schwester? „All das Ungesagte zwischen uns“ ... Und noch ein Musiker-Biopic, …. diesmal über Bruce Springsteen. Aber taugt der Film auch etwas für Ticketkäufer, die keine Fans des „Boss“ sind?
Last night I dreamed that I was a child
1981 ist Bruce Springsteen 32 Jahre alt. Im Jahr zuvor hatte er mit „The River“ seinen endgültigen Durchbruch. Die Platte wurde weltweit sechs Millionen Mal verkauft, ganz Amerika kennt „Hungry Heart“, die Tour zum Album war ein voller Erfolg. Nur verständlich wenn die Plattenfirma auf das nächste Album mit Hits drängt, mit denen der „Boss“ dann wiederum auf Tour gehen kann. Aber Bruce Springsteen hat andere Pläne und andere Probleme …
Der große, leider bereits verstorbene Kurt Ostbahn/Willi Resetarits, ein „brother from another mother“ von Bruce Springsteen, bezeichnete die Songs „Factory“ und „Independence Day“ einmal als „zwei Lieder, die der Springsteen über meinen Vater g’schriebn hat, obwohl er ihn garned kennt. Aber das macht nix. Mei Vater hat den Springsteen jo a ned kennt.“
Bruce Springsteen schreibt und singt seit über fünfzig Jahren über unsere Väter, die er „garned kennt“. Er schreibt und singt Lieder über von uns verehrte Frauen, die er ebenfalls „garned kennt“ und die auch nicht alle „Mary“ oder „Wendy“ heißen, die uns aber bitte trotzdem erlösen sollen so wie wir sie erlösen wollen, weil „I just can’t face myself alone again“ und „Together we can live with the sadness. I love you with all the madness in my soul“. Er schreibt und singt Lieder über und für uns alle, die wir ein „hungry heart“ haben aber oft auch „debts no honest man can pay“.
Um eines gleich vorwegzunehmen: „Deliver me from nowhere“ ist kein Film für Leute, die „Born in the USA“ nach vierzig Jahren noch immer für ein patriotisches Lied halten. Der neue Film von Regisseur und Drehbuchautor Scott Cooper ist auch kein Film für Leute, die ein weiteres der vielen typischen Musiker-Biopics sehen wollen, die sich von Superhelden-Origin-Stories meist nur noch insofern unterscheiden, dass am Ende immer gesungen statt mit Aliens gekämpft wird. Wenn überhaupt, dann ist „Deliver me from nowhere“ die Origin-Story von „Nebraska“, Springsteens sechstem und bis dahin persönlichsten Album.
Aber dieser Film ist zum Glück noch mehr als bloß die Entstehungsgeschichte eines der besten Alben aller Zeiten. „Deliver me from nowhere“ ist ein berührendes, manchmal bedrückendes Drama um Trauma und Heilung, um die Unfähigkeit zu lieben solange man sich selbst nicht liebt und die Unmöglichkeit seinen Weg zu finden, wenn man nicht weiß, woher man kommt. Eine der besten Dialogstellen dieses Kinojahres lautet dann auch: „Where you come from, is gone. Where you thought you were going, was never there.“
Scott Cooper („Crazy Heart“, „Antlers“) hat hier einen ungewöhnlich reifen Film über einen Mann geschaffen, der mit 32 noch recht unreif ist und erkennen muss, dass er noch ganz am Beginn seines Weges steht. Wir sehen hier einen Film über Liebe, in dem die Liebesgeschichte, anders als vom Protagonisten besungen, niemals zur „Redemption“ führen kann. Wir sehen einen Film über Freundschaft, die sich dann beweist, wenn der Freund aufgibt und erklärt, „You are not well. You need professional help.“. „Deliver me from nowhere“ ist ein Drama, das auf aufgesetzte Dramatik verzichtet, so ambivalent wie sein zutiefst menschlicher Protagonist.
Diese Ambivalenz vermittelt Cooper in einem über weite Strecken sehr intimen Film. Ja, wir sehen den „Boss“ auf der Bühne. Aber nur zwei oder dreimal, und dann auch nur kurz. Cooper hat weder Zeit noch Mühe auf Spielerein im Stil des Finales von „Bohemian Rhapsody“ zu verschwenden. So wie die Songs auf „Nebraska“ manchmal etwas rau klingen, so wirkt Coopers Inszenierung an einzelnen Stellen ein wenig ungeschliffen und zuweilen plump. Aber so wie alle Songs auf dem Album „Nebraska“ von Springsteen selbst in seinem Schlafzimmer und nicht mit großem Aufwand in einem professionellen Studio aufgenommen wurden, so geht Cooper ganz nah an seine Figuren ran, um sie ungeschminkt und ganz unverfälscht aus nächster Nähe zu zeigen.
I was trying to make it home through the forest
Das gilt vor allem für die von der jungen Australierin Odessa Young dargestellten Figur der Faye Romano. Young spielt diese Faye (ein Kompositum mehrerer realer Vorbilder) nicht als Groupie, Vamp oder eines von vielen möglichen Klischees, sondern als echte Frau, die einen Job hat und ein Kind und eine Vorgeschichte und Sorgen und Träume und die liebt und geliebt werden möchte.
Der Brite Stephen Graham („Venom 2 & 3“) spielt Springsteens Vater nicht als traumatisierendes Monster, sondern als Mann seiner Zeit. Und in dieser Zeit hatte man(n) Überforderung, Depression und andere Sorgen gefälligst zu schlucken und am besten mit Alkohol runterzuspülen. Gaby Hoffmann wirkt daneben als Mutter Springsteen leider etwas blass. Auch Paul Walter Hauser und Marc Maron bekommen kaum mehr zu tun, als Stichworte zu geben.
Jeremy Strong spielt nach „The Apprentice” wieder einen Freund und Mentor. Bloß diesmal einen in absolut jeder Hinsicht sehr viel besseren Freund und Mentor. So wie sein reales Vorbild Jon Landau Herz und Hirn hinter Springsteens Erfolg war, so ist Strong mit seiner zurückgenommenen angenehmen Darstellung sowohl Herz als auch Hirn dieses Films.
Star des Films ist natürlich Jeremy Allen White, bekannt aus der TV-Serie „The Bear“. Auch seine Darstellung unterscheidet sich wohltuend von den Imitationen der Vorbilder, die wir aus anderen Biopics gewohnt sind. White versucht gar nicht wie Springsteen auszusehen oder zu sprechen. Stattdessen fängt er mit seiner Darstellung das Wesen dieses Mannes in dieser schwierigen Phase seines Lebens ein. So vermittelt er uns die Geschichte eines echten Menschen, statt der Legende eines Stars.
Fazit
Kein typisches Musiker-Biopic, sondern ein reifer, ungewöhnlich intimer Film über einen Künstler in der Krise und einen jungen Mann, der seinen Weg findet.