Schon früh im Film sehen wir Maria Reiche ihre Konditionierung weit hinter sich lassen. Sie hat das heimatliche Dresden, ja sogar Deutschland gegen den Willen der Mutter verlassen. In Lima lebt sie in einer Beziehung mit einer Frau zusammen, lebt ihr eigenes Leben. Aber sie hat keine Scheu vor weiteren Stationen der Heldinnenreise. Die „spirituelle Dürre“ verlangt von Frauen „Nein“ zu sagen und das angenehme Gefühl, anderen zu gefallen, einzutauschen gegen die Möglichkeit zu verletzen und später zu heilen. Und wir sehen, wie Maria die Geborgenheit des Lebens in Lima und die Liebe der Partnerin zwar nicht geringschätzt, aber doch aufgeben muss, um ihrer Berufung zu folgen.
Ich fühle hier eine tiefe Verbundenheit mit mir selbst
Das alles zeigt uns Regisseur Damien Dorsaz in seinem ersten Spielfilm in sehr schönen und vor allem wirkungsvollen Bildern. Dorsaz war bisher in französischen Film- und Fernsehproduktionen als Schauspieler tätig. Und es ist bemerkenswert, wie fein und subtil er seinen (ich muss es nochmal betonen) ersten Spielfilm inszeniert. Er will uns nicht sofort mit Bildern der exotischen Landschaft beeindrucken. Er zeigt uns Lima, die peruanische Provinz und schließlich sogar die Wüste nicht als Kulissen für seine Geschichte, sondern buchstäblich als Lebensräume, als unterschiedlich belebte Räume. In Lima findet das internationale, moderne Leben statt, während es in der Kleinstadt bloß ein Telefon für den ganzen Ort gibt. In der Wüste gibt es noch weniger Leben, das sich meist an ihrem Rand abspielt.
Und so wie die Heldin erst einzelne Linien, dann verbundene Linien und erst nach und nach Bilder wahrnimmt und noch später deren Funktion erkennt, so zeigt uns Dorsaz die Wüste erst als Raum, der anders ist, dann als Sand und Hügel, die es zu überqueren und zu ersteigen gilt. Erst recht spät im Film, bekommen wir die Weite der Wüste gezeigt. So wie sich der Heldin das Wesen ihrer Umgebung und deren Geheimnisse erschließen, sehen wir, was sie sieht, erst wenn sie es sieht. So lässt uns dieser Film zu Begleitern dieser Heldinnenreise werden.
Natürlich ist „Maria Reiche: Das Geheimnis der Nazca-Linien“ nicht perfekt. So schön der Film über weite Strecken ist, sieht man ihm doch gelegentlich einen gewissen Mangel an Erfahrung und Budget an. Vor mehr als 80 Jahren gab es sicher selbst in Peru mehr als drei verschiedene Kraftfahrzeuge und die wenigsten werden so wunderbar gepflegt ausgesehen haben wie die im Film. Und das Finale wirkt beinahe hastig inszeniert, als hätte man das Ganze schnell abwickeln müssen.
Die Handlung nimmt auch an anderen Stellen Abkürzungen, die der historischen Figur nicht immer gerecht werden. Die eine oder andere weitere Episode aus dem Leben der echten Maria Reiche hätte den Film bereichert (die Frau hatte sich zum Beispiel im Alter von 52 Jahren an die Kufen eines Hubschraubers binden lassen, um bessere Luftaufnahmen der Nazca-Linien machen zu können). Der Drehbuchautor Dorsaz und seine Co-Autor*innen Fadette Drouard und Franck Ferreira Fernandes lassen ihre Figuren auch mehr als einmal Dialoge sprechen, die extrem viel Einsicht und an einzelnen Stellen prophetische Kenntnisse der Zukunft erkennen lassen.
Das alles tut der Heldinnenreise, die wir begleiten, nur wenig Abbruch. Wir begleiten die Heldin gerne, wird sie doch von Devrim Lingnau („Die Kaiserin“) kongenial dargestellt. Ihre Maria Reiche ist nicht einfach nur eine Heldin, nicht nur eine faszinierende Person. Diese Maria ist der seltene Fall einer Person, die auf ihrer Heldinnenreise tatsächlich „die Integration von männlichen und weiblichen Grundaspekten“ schafft. Am Ende kommen wir zusammen mit der Heldin jenseits der Dualität an. Das funktioniert, weil Lingnau Reiche als Menschen mit enormer innerer Kraft darstellt, einer Kraft, die nie gegen etwas gerichtet ist, sondern einfach da ist.
In Lingnaus Darstellung ist Maria Reiche gleichzeitig eine Frau ihrer Zeit, aber auch eine moderne Heldin. Diese moderne Heldin kann einem modernen Publikum vermitteln, dass Stärke nichts mit Aggressivität zu tun hat. Ich möchte Filmfans, die mich durch diese Rezension begleitet haben und die Maria Reiche vielleicht auf ihrer Heldinnenreise begleiten möchten, einen Satz des Ökologen und Politologen David W. Orr anbieten: „The Planet does not need more sucessful people. The Planet desperately needs more peacemakers, healers, restorers, stroytellers and lovers of all kinds.“ Dieser Planet braucht mehr Menschen wie Maria Reiche. Und mehr Filme, die Heldinnenreisen wie die ihre erzählen.