Am Ende ihres ersten Zusammentreffens weist Hannibal Lecter die bedauernswerte und besudelte Clarice Starling an, den Lagerraum eines seiner Opfer zu durchsuchen. Wie wir alle wissen, spielt Lecter bloß mit der Agentin. Es gibt in dem Lager keine Spuren zum aktuellen Fall zu finden. Und wie Lecter Clarice auf eine sinnlose Schnitzeljagd schickt, so quälten die Macher des Films ihr Publikum durch diese gruselige Sequenz, bloß um es zu verunsichern. Wenn jetzt jemand unbedingt einen Vergleich zwischen den beiden Filmen anstellen möchte, dann diesen: „Longlegs“ macht mit dem Publikum ungefähr 90 Minuten lang das, was „Das Schweigen der Lämmer“ während der Lagerraum-Sequenz mit seinem Publikum angestellt hat.
You’ve got the teeth of the hydra upon you ...
„Longlegs“ verunsichert uns ständig. Beweismaterial liefert in diesem Film nicht wirklich neue Spuren. Es soll uns bloß verwirren. Wenn der Killer mit der FBI-Agentin kommuniziert, stellt er ihr keine Denksportaufgaben um sie der Lösung näher kommen zu lassen. Nein, er spielt ein krankes Spiel das niemand gewinnen kann oder soll. Wenn eine Figur schließlich in der Haft einen Dialog mit der Agentin führen möchte, liefert sie der Ermittlerin keinerlei Informationen, sondern befriedigt damit bloß eine tiefsitzende Bosheit.
Wenn Hannibal Lecter einem seiner Bewacher die Gesichtshaut abzieht, dann um sie sich selbst übers Gesicht zu ziehen und als Schwerverletzter von den Sanitätern geborgen werden zu können. Wenn eine Figur in „Longlegs“ trotz Handschellen Selbstmord begeht, indem sie sich selbst den Schädel einschlägt, dann bloß um die junge Agentin (und das Publikum) zu traumatisieren. Übrigens, welches Bild auch immer die geneigten Leser*innen nun von einer Person, die sich selbst den Schädel einschlägt, im Kopf haben möchten, ich kann versichern: es ist falsch. Die Szene im Film ist schlimmer.
Oz Perkins (bevor ich es vergesse: jawohl der Sohn des großartigen, leider viel zu früh an AIDS verstorbenen Anthony Perkins) gelingt es 80 Minuten lang, uns mit seinem Film komplett zu verunsichern. Dabei geht er teilweise wirklich genial vor und macht dabei das Beste aus den offensichtlich beschränkten Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Und daher ist es wirklich schade, nein es ist sogar furchtbar, wenn der Film nach drei Vierteln seiner Laufzeit plötzlich zu einem unsinnigen, abrupten Halt kommt, nur damit uns eine der Figuren in einer viel zu langen Rückblende erklärt, was nicht erklärt werden kann, nicht erklärt werden muss und auch gar nicht erklärt werden darf!
Das Böse in diesem Film ist das pure, von den Menschen und ihrer Logik losgelöste Böse! Da gibt es nichts zu erklären! Rein gar nichts! Diese viel zu lange Rückblende ergibt innerhalb des Films keinen Sinn und - noch schlimmer – sie ergibt für diesen Film keinen Sinn. Sie trägt nichts dazu bei und schwächt den Film sogar. Oz Perkins schert sich 75 Minuten lang nicht um Konventionen. Er verunsichert sein Publikum. Er spielt nicht mit den Erwartungen. Er vermittelt dem Publikum, seine Erwartungen sind falsch, nichts als dumme Lügen, auf die niemand etwas gibt.
Und nach alldem und noch einigem mehr darf sich eine überaus interessante Figur plötzlich in den Erklärbären verwandeln? Diese Figur hätte das Potential gehabt, einer der interessantesten Charaktere der jüngeren Thriller-Geschichte zu werden. Und plötzlich ist es, als hätte sie sich geräuspert, als „Morris the Explainer“ vorgestellt und eine Power-Point-Präsentation mit dem Titel „Der uninteressanteste Teil dessen, was bisher geschah“ vorbereitet. Was soll das alles? Hat Oz Perkins‘ Mut und Einfallsreichtum nur für 90 von 102 Filmminuten gereicht? Muss man in Hollywood wirklich jeden Film so gestalten, dass selbst Zwölfjährige mit ADHS alles verstehen, obwohl sie während des Films versuchen, den von den Eltern auf ihrem Handy installierten Pornoblocker zu umgehen?
You’re dirty sweet and you’re my girl
Wenn „Longlegs“ trotz einem enttäuschenden halben Ende doch funktioniert, dann liegt das auch an der wirklich sehr guten Besetzung des Films. Maika Monroe hatte bisher recht viel Pech in ihrer Karriere. Sie spielte kleine Rollen in misslungenen kleinen Filmen („Labor Day“), kleine Rollen in misslungen Großproduktionen („Die 5. Welle“), größere Rollen in misslungenen kleinen Filmen („Tau“) oder größere Rollen in misslungen Großproduktionen („Independence Day: Wiederkehr“).
Hier gelingt ihr das Kunststück eine Hauptfigur in einem Thriller zu spielen, die regelmäßig nicht logisch agiert oder reagiert und dem Publikum damit trotzdem nicht auf die Nerven geht. Die unlogischen Aktionen oder Reaktionen der jungen FBI-Agentin sind immer emotional nachvollziehbar. Wir sehen hier eine junge Frau, mit nicht unbeträchtlichen seelischen Problemen, die während des Films weiter traumatisiert wird. Maika Monroe gelingt es, uns das Erleben und die Gefühle ihrer Figur jederzeit zu vermitteln.
Die von mir sehr geschätzte Alicia Witt spielte ihre beste Rolle in ihrem besten Film mit gerade mal 8 Jahren in David Lynchs „Dune“ (der mutigen Version von 1984, nicht dem zweiteiligen Zusammenschnitt der schönsten Wüstenaufnahmen der Filmgeschichte). Während der letzten 40 Jahre durfte sie jede Menge mittelmäßige Nebenrollen in mittelmäßigen Filmen („Ein Chef zum Verlieben“) oder Fernsehserien („Orange is the New Black“) spielen. Es wurde also schön langsam Zeit, dass die Arme wieder mal eine gute Rolle in einem guten Film spielen durfte.
Und kaum 40 Jahre nach „Dune“ (wie gesagt, der coolen Version von 1984 und nicht dem überlangen Zweiteiler, der so wirkt als würde man sich „Star Wars“ auf der Calm-app reinziehen) darf Alicia Witt wieder zeigen, was sie kann (Da soll mal keiner sagen, es gäbe keine guten Rollenangebote für Frauen in Hollywood). Und Witt meistert diese schwierige Rolle, die genau an der Stelle angesiedelt ist, wo der Wahnsinn gerade noch Methode hat.
Der Trailer und die Marketingkampagne haben uns das Monster dieses Films lange Zeit vorenthalten. Und das ist gut so. Wir wissen, bei Schurken und Monstern ist weniger eindeutig mehr. Nicolas Cage liefert hier eine zutiefst beunruhigende und unerwartete Darstellung eines Schurken, der wohl irgendwann irgendwie zum Monster wurde. Diese zutiefst verstörende Figur mag einige Inspirationen gehabt haben(mich hat sie u.a. an Jimmy Savile und einige Kardashians erinnert). Sie hat aber keine erkennbaren Vorbilder und imitiert nichts, was wir im Film bisher gesehen haben. Drehbuchautor Oz Perkins hat einen originären Bösewicht erschaffen. Und Nicolas Cage hat dieses Monster mit der originellsten Darstellung seiner Karriere zum Leben erweckt.