Beim ersten Film der Daniels – Dan Kwan und Daniel Scheinert – musste man schon aufhorchen, denn SWISS ARMY MAN mit Daniel Radcliffe als Leiche war ein ungemein schräger, eigentümlicher, absurder, aber ausgesprochen cooler Film. Mit ihrem zweiten Projekt EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE übertrumpfen sich die Daniels noch, indem sie eine Geschichte erzählen, die nach Blockbustern á la Marvel klingt, aber vielschichtiger und tiefgehender ist.
Eine Frau macht ihre Steuern
Evelyn (Michelle Yeoh) lebt seit Jahrzehnten in den USA, hat eine Tochter, mit der sie nicht so gut auskommt, einen Mann, der sich von ihr scheiden lassen will, und einen Waschsalon, der mehr schlecht, als recht läuft. Als sie beim Finanzamt aufschlägt, um sich für ihre Steuererklärung zu rechtfertigen, passiert jedoch etwas. Ihr Mann Waymond (Ke Huy Quan) ist nicht mehr er selbst. Sein Körper wurde von einem alternativen Waymond aus einer parallelen Welt übernommen. Er erzählt Evelyn, dass er ihre Hilfe braucht. Nur sie ist in der Lage, das Multiversum vor der bösen Jobu Tupaki zu retten.
Aber Evelyn hat keine Ahnung wie, und Lust auch nicht. Aber sie wird in dieses Abenteuer hineingezogen, wechselt in andere Welten und nutzt die Fähigkeiten ihrer alternativen Versionen, um den Kampf zu gewinnen.
Wilder Trip
Die Details des Plots wurden lange Zeit geheim gehalten. Bei der IMDb hieß es überhaupt nur: Eine Frau macht ihre Steuern. Aber natürlich ist EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE sehr viel mehr als das. Dies ist ein 132 Minuten langer Sci-Fi-Trip, der vor wilden Ideen geradezu birst. Denn die beiden Daniels zeigen nicht nur, wie das Leben der Hauptfigur hätte verlaufen können, wenn sie an kritischen Momenten ihres Lebenslaufs andere Entscheidungen getroffen hätte, sondern warten auch mit herrlich absurden Ideen wie einer alternativen Welt, in der die Menschen Steine sind, auf. Oder aber eine, in der Waschbären auf den Köpfen der Leute sitzen. Oder sie im wahrsten Sinne des Wortes Wurstfinger haben.
Dem Einfallsreichtum der Daniels sind hier keine Grenzen gesetzt. Es gibt reichlich Absurditäten in diesem Film zu entdecken. Überhaupt wechselt er auch gerne das Genre. Er ist Drama und Science Fiction zugleich, hat aber auch Martial-Arts-Einlagen zu bieten. Die erinnern an die großen Kung-Fu-Filme aus China, aber auch an Jackie Chans wilde Herumhampeleien. Besonders eindrucksvoll ist dabei Ke Huy Quan, den man schon seit 20 Jahren nicht mehr im Kino gesehen hat und der als Kind ein Star war – durch die Filme INDIANA JONES UND DER TEMPEL DES TODES und DIE GOONIES.
Technisch faszinierend
Der Film wechselt immer wieder das Format. Die Rückblicke auf die alternativen Leben sind im Format 4:3 und sehen aus wie alte Familienvideos. Ansonsten wechselt man zwischen 1,85:1 und 2,39:1 hin und her, was einen leicht desorientierenden Effekt hat. Man kann sogar sehen, wie sich die Balken bei 2,39:1 aufbauen!
Aber das sind technische Spielereien. Punkten muss der Film vor allem mit dem Skript. Das gelingt ihm ausgesprochen gut. Denn trotz der epischen Laufzeit verliert die Geschichte nie den Fokus, auch wenn es Abstecher in ausgesprochen schräge Welten gibt. Zudem spielen die Daniels immer mit der Form. Nach etwa zwei Dritteln gibt es gar ein Finale und einen Abspann, aber auch nur innerhalb eines Kinos einer alternativen Welt. Und dennoch: Für einen Moment könnte man denken, der Film sei vorbei!
Das Finale trägt dem Titel dann Rechnung. Einem Crescendo gleich stürmt alles auf einmal auf den Zuschauer ein. Alle Welten, alle Alternativen, alles auf einmal. Das kann überwältigend wirken, auf jeden Fall hat man das Gefühl, dass man den Film noch einmal sehen möchte, um wirklich alle Details mitzubekommen.
Fazit
EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE ist ein herausragender Film, der die Geschichten typischer Blockbuster wie von Marvel nimmt, aber sie durch den Arthaus-Fleischwolf dreht, mit echtem Drama und vollkommen außergewöhnlichen Ideen versieht, und so zu einem Werk wird, an dem man sich gar nicht sattsehen kann. Einer der ganz großen Filme in diesem Kinojahr.