Herrlich enigmatische Charakterstudie
Dass mit der jungen Frau irgendetwas nicht stimmt, spürt man schnell. Umso mehr möchte man hinter die Fassade schauen, sie verstehen. Doch genau das erschwert der Thriller immer wieder. Kelly-Anne umweht eine merkwürdig anziehende, aber auch abstoßende Aura, die in großen Teilen auf das Konto der schauspielerisch noch nicht allzu erfahrenen Juliette Gariépy geht. Selbst vermeintlich nichtssagende Gesten – etwa, wenn ihre Figur Avocadostücke aus einem Salat herauspuhlt und zur Seite schiebt – lädt sie so geschickt auf, dass sie uns gebannt über Kelly-Anne rätseln lassen. Selten hat man im Thriller-Kino in den letzten Jahren ein derart komplexes, widerspenstiges Charakterporträt gesehen, das bis zum Schluss der Versuchung widersteht, in billige psychologische Erklärungsmuster zu verfallen.
In einer gerechten Welt müssten Gariépy nach dieser Darbietung reihenweise starke Rollenangebote ins Haus flattern. Nervenkitzel bezieht der Film auch aus dem Zusammenprall Kelly-Annes mit der so gegensätzlichen Clementine. Letztere redet oft wie ein Wasserfall, posaunt ihre Meinung über den Chevalier-Fall laut hinaus und verströmt eine Grundnervosität, die von der zumeist kontrolliert geführten Kamera gelegentlich gespiegelt wird. Obwohl die beiden Frauen bis auf ihr Interesse am Prozess nichts gemein haben, entwickelt sich eine Art Freundschaft, nimmt Kelly-Anne die Zugereiste bei sich auf.
Spätestens in der zweiten Hälfte, wenn das Unbehagen unaufhaltsam ansteigt, kristallisiert sich heraus, dass „Red Rooms - Zeugin des Bösen“ auch eine höchst raffinierte Inszenierung der Blicke betreibt. Wer schaut wen oder was auf welche Weise an? Wir als Zuschauer sehen zum Beispiel Kelly-Anne und Clementine dabei zu, wie sie eines der Mordvideos sichten, wobei das Model wiederum die Reaktion ihrer neuen Freundin beobachtet. Gespenstisch ist vor allem ein kurzer Augenkontakt im Gerichtssaal in dem Moment, in dem sich die aufgestaute Spannung erstmals furios entlädt.
Überhaupt nutzt Pascal Plante die Mittel des Kinos gekonnt, um eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen. Das im eher unüblichen 3:2-Format gehaltene Bild zwängt die Figuren regelrecht ein, konzentriert sich ganz auf sie, lässt ein klaustrophobisches Gefühl entstehen. Und die von Dominique Plante, dem Bruder des Regisseurs, komponierte Musik reflektiert den zunehmenden Kontrollverlust der Protagonistin, wird gerade im letzten Drittel immer treibender und dringlicher. Auch wenn auf der Zielgeraden gar nicht so spektakuläre Dinge passieren, entfaltet „Red Rooms - Zeugin des Bösen“ eine ganz eigene Wucht.