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Kritik: Anora

sub kritik
 
Autor: Walter Hummer
 
Und wieder ein Film, der auf einem Filmfestival mit minutenlangem Applaus gefeiert wurde. Aber wird „Anora“ das zahlende Publikum ebenso begeistern können?
 
I give it two weeks, bitch
 
Anora, eine junge Frau aus Brooklyn, lässt sich lieber „Ani“ nennen und arbeitet als Stripperin. Als eines Tages Wanja, der Sohn eines russischen Oligarchen, in den Stripclub kommt und mit Geld um sich wirft, feiert sie mit ihm auch dann weiter, nachdem der die Party nach Las Vegas verlegt. Als die beiden in Vegas heiraten scheint für Ani ein Traum wahr geworden. Aber kaum zurück in New York City zerplatzt dieser Traum recht schnell ...
 
Ich weiß, ich sollte damit aufhören, mich über die Länge des Beifalls lustig zu machen, der im Anschluss an Filmvorführungen auf Festivals gemessen wurde. Aber vermutlich sollte ich auch aufhören immer zuerst über ganz andere Themen, wie Hunde, Autos, Eva Green und meine Frau zu schreiben, wenn mir zu einem Film nicht viel einfallen möchte.
 
Ich sollte auch mehr Obst und weniger Fett und Kohlehydrate essen und sicher auch mehr Sport machen und ganz allgemein sparsamer leben. Aber weil niemand sagen kann, wo das alles aufhört, fange ich gar nicht erst an. Wenn ich anfange mich zu ändern, schreibe ich am Ende ebenso langweilige Filmkritiken wie die meisten meiner Kollegen und verliere so viel Gewicht, dass ich mich neu einkleiden muss weil mir nichts mehr passt und dann kann ich erst recht nichts sparen, ... das ist doch alles ein Teufelskreis.
 
 
Also im Anschluss an die Vorführung von Sean Bakers „Anora“ im Rahmen der 77. Filmfestspiele in Cannes applaudierte das versammelte Fachpublikum ganze zehn Minuten lang. Da der Film selbst schon 138 Minuten lang ist und bei Veranstaltungen wie dieser reichlich Getränke gereicht werden, wirft das die Frage auf, warum die Leute alle nicht auf die Toilette mussten. Das Durchschnittsalter des typischen Cannes-Publikums liegt nahe an meinem eigenen. Ich behaupte, die meisten Leute müssen bereits während des Films kurz draußen gewesen sein. Anders ist das gar nicht erklärbar und ich komme später noch auf diesen Punkt zurück.
 
Ich kann die Begeisterung durchaus nachvollziehen. „Anora“ bietet vieles, wofür man sich begeistern kann. Der Film hat einen interessanten, sehr realistisch wirkenden Look, der unter anderem an frühe Filme von Martin Scorsese erinnert. Kameramann Drew Daniels hat bereits an „Red Rocket“ mit Regisseur Sean Baker zusammengearbeitet. In „Anora“ lichtet er die schäbige Düsternis des Stripclubs ebenso kongenial ab wie den polierten Glanz von Las Vegas und die graue Trostlosigkeit der kalten Straßen Brooklyns. Regisseur Sean Baker hat wie bei all seinen bisherigen Filmen auch das Drehbuch geschrieben. Und er schafft es sehr schnell uns die Protagonisten kennen lernen zu lassen. Ani lebt in einer Welt, in der man ein Schmetterlings-Tattoo schon „classy“ findet. Wenn sie sich vom Reichtum des Oligarchensprösslings blenden lässt, dann nicht weil sie dumm ist. Diese junge Frau ist einfach nur unreif und es mangelt ihr an Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungen.
 
Die Szenen in denen Wanja in New York und Las Vegas mit Geld um sich wirft, verdeutlichen die Dekadenz, die sich einstellt, wenn Menschen Zugang zu lächerlich großen Vermögen haben, ohne je etwas dafür getan zu haben. Wenn wir in einer Szene hören, dass Wanja gar nicht weiß, wie hoch der Einsatz am Spieltisch war, den er eben verloren hat, dann lernen wir auch diesen jungen Mann kennen und erkennen, warum er und Ani tatsächlich eine Nähe zueinander verspüren. Wanja ist mindestens ebenso unreif wie Ani und auch ihm fehlen Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungen, die es braucht, um abschätzen zu können, wo man ihm Leben steht.
 
01 ©2024 Universal Pictures02 ©2024 Universal Pictures03 ©2024 Universal Pictures06 ©2024 Universal Pictures
 
„Anora“ ist Sean Bakers erstes Drehbuch, das er ohne seinen langjährigen Co-Autor Chris Bergoch verfasst hat. Und zuweilen ist Baker ein bisschen zu begeistert von seinen eigenen Ideen. Der zweite Akt beginnt mit einer viel zu langen Sequenz, in deren Verlauf eine nur spärlich bekleidete Frau von mehreren Männern mit Gewalt unter Kontrolle gebracht und immer wieder unter Druck gesetzt wird. Diese lustig gemeinten Szenen, machen es einem aber nicht leicht, sie unterhaltsam zu finden.
 
Und je länger diese Szenen dauern, umso weniger unterhaltsam wirken sie. Und sie dauern wirklich lange. Anschließend verkommt eine wirre, nächtliche Suche durchs nächtliche Brooklyn zu einer viel zu langen Nummernrevue, die sicher eine gute halbe Stunde buchstäblich nirgendwohin führt. Die Suche bleibt ergebnislos. Die witzigen Einlagen haben sich schnell abgenutzt. Und die ohnehin nicht besonders temporeiche Handlung kommt irgendwann fast völlig zum Stillstand. Ich komme jetzt auf meine Theorie vom Anfang zurück und unterstelle, das Publikum in Cannes konnte nur deshalb so lange applaudieren, weil jeder einzelne Besucher in der Mitte des Films aus reiner Langeweile auf der Toilette war.
 
Auch der größte Teil des dritten Akts dauert viel zu lang und ist nur an wenigen Stellen so witzig wie Drehbuchautor Baker meint. Es hilft auch nicht, wenn Regisseur Baker an komischen Stellen nicht immer den rechten Sinn für Timing erkennen lässt. Irgendwann kommen einem die 138 Minuten des Films viel zu lang vor. Schon lange habe ich keinen durchaus anspruchsvollen Film mehr gesehen, der von einem rigorosen Schnitt so profitiert hätte, wie „Anora“. Leider lautet der Name des Cutters dieses Films auch Sean Baker.
 
Aber gerade wenn man meint, der Schluss des Films würde nun auch viel zu lang geraten, findet der ganze Film in die Spur zurück. Ein Gespräch zwischen Ani und ihrem Bewacher Igor klingt oberflächlich, behandelt aber auf eine leichte, geradezu lässige Art die grundlegenden Themen des Films. Wenn Ani sich über Igors Namen lustig macht und dieser ihr bloß entgegnet, dass er „Anora“ viel besser findet als „Ani“ muss man gar nicht wissen, dass der Name „Anora“ eine Variation des lateinischen „Honora“ ist und mit „Ehre“ zu tun hat. Wir verstehen auch so, was Igor Ani und gleichzeitig der Film uns mitteilen will.
 
Eine berührende, weil ebenso romantische wie realistische und tieftraurige Schlussszene vermittelt uns, worum es in diesem Film wirklich ging. Nicht um Sex und Geld. Sondern darum, was es bedeutet, wenn Menschen nie Gelegenheit hatten, zu lernen, was im Leben wirklich wichtig und wertvoll ist. Dieser Film zeigt uns unreife Menschen die Fehler machen. Er zeigt uns den Unterschied zwischen Menschen, die irgendwann nachdenken, über das was sie tun und getan haben und denen, die das nicht tun. Eine der beiden Gruppen, wird es im Leben immer schwerer haben, als die andere. Dafür haben diese Menschen die Möglichkeit zur Entwicklung, die den anderen fehlt.
 
You are an adult
 
Vor allem der Schluss des Films lässt uns die Begeisterung des Publikums in Cannes also nachvollziehen. Wenn „Anora“ trotz seiner Schwächen funktioniert und gerade am Schluss wirklich sehr gut funktioniert, dann liegt das auch an der Besetzung. Eine Reihe recht unbekannter Nebendarsteller*innen, angeführt von Bakers Stammschauspieler Karren Karagulian, stellen weniger Nebenfiguren als Typen dar. Das tun sie aber alle zum großen Teil durchaus unterhaltsam. Ein junger Russe namens Mark Eidelshtein vermittelt uns die Egozentrik und Erbärmlichkeit des Oligarchensohnes.
 
Die große Überraschung des Films liefert aber Yura Borisov. International noch unbekannt, hat er unter anderem die Hauptrolle in einem russischen Biopic über Mikhail Kalaschnikow, den Erfinder des AK-47, gespielt. Seine Darstellung in „Anora“ ist etwas Besonderes, weil seine Figur zunächst eine Nebenfigur zu sein scheint, die im Verlauf des Films Gravitas entwickelt. Sein Dialog besteht zunächst vor allem aus einzelnen Zeilen wie „I have no idea“ und „I don’t think so“, die er bereits mit einer tiefen Aufrichtigkeit ausspricht.
 
Später gibt er eine der wichtigsten Zeilen des Films von sich und klingt dabei immer überzeugend. Bei dieser Entwicklung „spielt“ Borisov sich und seine Figur nicht in den Vordergrund. Er „rückt“ einfach nach und nach in den Vordergrund, weil seine Figur bald das moralische Zentrum dieses Films bildet.
 
Manche Leser*innen werden Mikey Madison aus der Fernsehserie „Better Things“ kennen. Ich erinnere mich an diese Darstellerin, weil sie in „Once Upon A Time In Hollywood“ von Leonardo DiCaprio in Brand gesetzt wurde (vermutlich weil er keine Frau über Zwanzig in seinem Swimmingpool haben wollte). In „Anora“ stellt sie die Titelheldin dar und damit eine von zwei Figuren des Films, die eine echte Entwicklung durchmachen. „Durchmachen“ muss ihre Figur im Verlauf des Films so einiges. Madison sorgt dafür, dass Ani nie zum bloßen Opfer wird und immer eine echte Person bleibt.
 
Fazit
 
Vielleicht war die Begeisterung des Publikums in Cannes ein wenig übertrieben. Aber „Anora“ ist ein interessanter Film, der mit leichter Hand wichtige Themen auf unterhaltsame Art behandelt und vor allem am Ende viel Herz erkennen lässt. Einige vermeidbare Längen werden von den sympathischen Darsteller*innen beinahe überspielt.
 
 
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