Auch der größte Teil des dritten Akts dauert viel zu lang und ist nur an wenigen Stellen so witzig wie Drehbuchautor Baker meint. Es hilft auch nicht, wenn Regisseur Baker an komischen Stellen nicht immer den rechten Sinn für Timing erkennen lässt. Irgendwann kommen einem die 138 Minuten des Films viel zu lang vor. Schon lange habe ich keinen durchaus anspruchsvollen Film mehr gesehen, der von einem rigorosen Schnitt so profitiert hätte, wie „Anora“. Leider lautet der Name des Cutters dieses Films auch Sean Baker.
Aber gerade wenn man meint, der Schluss des Films würde nun auch viel zu lang geraten, findet der ganze Film in die Spur zurück. Ein Gespräch zwischen Ani und ihrem Bewacher Igor klingt oberflächlich, behandelt aber auf eine leichte, geradezu lässige Art die grundlegenden Themen des Films. Wenn Ani sich über Igors Namen lustig macht und dieser ihr bloß entgegnet, dass er „Anora“ viel besser findet als „Ani“ muss man gar nicht wissen, dass der Name „Anora“ eine Variation des lateinischen „Honora“ ist und mit „Ehre“ zu tun hat. Wir verstehen auch so, was Igor Ani und gleichzeitig der Film uns mitteilen will.
Eine berührende, weil ebenso romantische wie realistische und tieftraurige Schlussszene vermittelt uns, worum es in diesem Film wirklich ging. Nicht um Sex und Geld. Sondern darum, was es bedeutet, wenn Menschen nie Gelegenheit hatten, zu lernen, was im Leben wirklich wichtig und wertvoll ist. Dieser Film zeigt uns unreife Menschen die Fehler machen. Er zeigt uns den Unterschied zwischen Menschen, die irgendwann nachdenken, über das was sie tun und getan haben und denen, die das nicht tun. Eine der beiden Gruppen, wird es im Leben immer schwerer haben, als die andere. Dafür haben diese Menschen die Möglichkeit zur Entwicklung, die den anderen fehlt.
You are an adult
Vor allem der Schluss des Films lässt uns die Begeisterung des Publikums in Cannes also nachvollziehen. Wenn „Anora“ trotz seiner Schwächen funktioniert und gerade am Schluss wirklich sehr gut funktioniert, dann liegt das auch an der Besetzung. Eine Reihe recht unbekannter Nebendarsteller*innen, angeführt von Bakers Stammschauspieler Karren Karagulian, stellen weniger Nebenfiguren als Typen dar. Das tun sie aber alle zum großen Teil durchaus unterhaltsam. Ein junger Russe namens Mark Eidelshtein vermittelt uns die Egozentrik und Erbärmlichkeit des Oligarchensohnes.
Die große Überraschung des Films liefert aber Yura Borisov. International noch unbekannt, hat er unter anderem die Hauptrolle in einem russischen Biopic über Mikhail Kalaschnikow, den Erfinder des AK-47, gespielt. Seine Darstellung in „Anora“ ist etwas Besonderes, weil seine Figur zunächst eine Nebenfigur zu sein scheint, die im Verlauf des Films Gravitas entwickelt. Sein Dialog besteht zunächst vor allem aus einzelnen Zeilen wie „I have no idea“ und „I don’t think so“, die er bereits mit einer tiefen Aufrichtigkeit ausspricht.
Später gibt er eine der wichtigsten Zeilen des Films von sich und klingt dabei immer überzeugend. Bei dieser Entwicklung „spielt“ Borisov sich und seine Figur nicht in den Vordergrund. Er „rückt“ einfach nach und nach in den Vordergrund, weil seine Figur bald das moralische Zentrum dieses Films bildet.
Manche Leser*innen werden Mikey Madison aus der Fernsehserie „Better Things“ kennen. Ich erinnere mich an diese Darstellerin, weil sie in „Once Upon A Time In Hollywood“ von Leonardo DiCaprio in Brand gesetzt wurde (vermutlich weil er keine Frau über Zwanzig in seinem Swimmingpool haben wollte). In „Anora“ stellt sie die Titelheldin dar und damit eine von zwei Figuren des Films, die eine echte Entwicklung durchmachen. „Durchmachen“ muss ihre Figur im Verlauf des Films so einiges. Madison sorgt dafür, dass Ani nie zum bloßen Opfer wird und immer eine echte Person bleibt.