Die beiden Hauptfiguren verlieben sich innerhalb von fünf Minuten ineinander. Während dieser fünf Minuten sehen nichts, das uns vermittelt wie viel Zeit die beiden Hauptfiguren miteinander verbringen und wie sie einander während verschiedener Gelegenheiten und gemeinsamer Erlebnisse immer näher kommen. Nichts aber rein gar nichts vermittelt, wie Liebe oder auch nur Verliebtheit entstehen konnte. In diesem Film sehen die beiden komplizierten Hauptfiguren sich miteinander einen Film an und Hoppla, sind sie ineinander verliebt.
Die Nebenfiguren sind allesamt reine Handlungselemente. Sylvias Tochter wechselt von Szene zu Szene ihre ganze Haltung von angepisst und verständnislos (wozu es bei einer Dreizehnjährigen nicht viel braucht) zu unterstützend und selbstlos. Wie es bei einem Teenager zu dieser Verwandlung kommt, hätte mich als Vater zweier Töchter schon rein privat interessiert. Leider sehen wir davon nichts auf der Leinwand und erfahren auch sonst nichts über Sylvias Tochter. Diese Figur ist nur dazu da, Sylvias Leben schwieriger zu machen und ihr an anderer Stelle großherzig zu helfen. Sonst nix.
Ich habe vorhin geschrieben, „Memory“ hätte einiges zu bieten. Und das trifft wirklich zu. Spät im Film kommt es zu einer der emotionalsten Szenen, die wir in diesem Jahr im Kino zu sehen bekommen. Sylvias Seele wurde während ihrer Kindheit systematisch zerbrochen und diese Frau hat offensichtlich viele Jahre gebraucht, um die Stücke zusammenzusuchen und halbwegs zu kitten. Während einer Konfrontation darf die Person, die den größten Anteil an diesem Schaden hat, die alten Bruchstellen brutal wieder aufreißen.
In dieser Szene muss eine Nebenfigur Stärke zeigen, obwohl ihr diese Stärke vor langer Zeit mit Gewalt ausgetrieben wurde. Eine andere Figur zeigt, wie sie sich verzweifelt an eine boshafte Lüge klammern muss, ohne die ihr Leben nicht funktionieren kann. Ein junger Mensch lernt seine Mutter zum ersten Mal als echten Menschen und nicht bloß als Elternteil kennen. Eine weitere Figur kann nichts tun, als da zu sein. Und inmitten von alldem zerbricht ein Mensch aufs Neue, um vielleicht stärker aber sicher verändert aus dieser Erfahrung hervorzugehen.
Aber selbst diese großartige Szene wird kurz danach von einer schlampig geschriebenen Dialogszene entwertet, die überflüssigerweise das Verhalten einer der Nebenfiguren erklären soll. Gleichzeitig entwickelt sich ein neuer Handlungsstrang, der nur in Gang kommt, weil Sauls Bruder, der mehr als eine Stunde lang nichts anderes als Unterstützung und Verständnis für seinen Bruder erkennen ließ, plötzlich kontrollierend, hinterhältig und verständnislos agiert. Dieser Handlungsstrang erfährt eine pseudo-romantische Nicht-Auflösung, die den ganzen Film am Ende nochmal ordentlich ins Wanken bringt.
Als echter Filmfan möchte man verzweifeln. Denn auch wenn ich mich wiederhole, die 99 Minuten dieses Films haben wirklich einiges zu bieten. Unter anderem die feine Kameraarbeit des Belgiers Yves Cape. Sie lässt uns unter anderem erkennen, dass dieser Film tatsächlich in Ney York City gedreht wurde und nicht in Toronto, Vancouver oder Prag. In letzter Zeit hat man diese faszinierende Stadt mit ihren vielen Facetten im Film selten so nahbar vermittelt bekommen. Wir erfahren schnell den Unterschied zwischen der Straße, in der Sylvia wohnt und dem Viertel in dem sie ihre Schwester besucht. Und das Haus in dem Saul lebt, vermittelt kleine Einblicke in die Vergangenheit dieses Mannes.
Diese sind auch dringend nötig, weil Francos schlampiges Drehbuch uns, abgesehen von einer kurzen Bemerkung über eine frühere Ehe, rein gar nichts über Sauls Leben vor der Krankheit erfahren lässt. Wie sollen wir den Schrecken von Sauls Demenzerkrankung richtig nachvollziehen können, wenn wir nie erfahren, was er dadurch alles verloren hat? Diese und viele andere immer wieder absolut vermeidbare Fehler des Drehbuchs (Jessica Chastain war 1986 nicht zwölf Jahre alt. Herrgott nochmal, einfach die Jahreszahl ändern oder die Angabe ganz weglassen, weil sie für die Handlung ohnehin nebensächlich ist!), beinträchtigen auch die Wirkung der Arbeit der großartigen Hauptdarsteller*innen.
... and the truth is plain to see
Peter Sarsgaard ist seit „Shattered Glas“ und „Garden State“ einer der interessantesten Charakterdarsteller Hollywoods. Dara ändern auch generische Rollen in Filmen wie „Die glorreichen Sieben“ oder „The Batman“ nichts. Sarsgaard ist ein echter Könner. Das zeigt er in „Memory“ auf eindrucksvolle Weise, wenn er aus einer Rolle, die extrem „underwritten“ ist, doch noch eine sympathische Figur macht. Ein echter Charakter, eine Person die wir kennenlernen können, wird aus seinem Saul leider nie.
Jessica Chastain hat bereits früh in ihrer Karriere eine großartige Leistung im leider recht unbekannten „Take Shelter“ gezeigt. Sie war das Beste an fehlgeleiteten Filmen wie „The Help“ und „Zero Dark Thirty“ und reüssiert seit einigen Jahren in anspruchsvollen Dramen wie „Molly’s Game“ ebenso wie in Filmen wie „Es: Kapitel 2“. In „Memory“ hat sie einiges zu stemmen. Sie überspielt nicht nur die vielen Defizite des Drehbuchs im Allgemeinen und die ihrer Rolle im Besonderen (viel zu vieles an Sylvias Beziehung zu ihrer Schwester ergibt einfach keinen Sinn und ein Zusammenbruch am Ende wertet die Hauptfigur ab). Sie trägt den ganzen Film auf ihren schmalen Schultern und macht dieses extrem unausgewogene Werk allein durch ihre Leistung sehenswert.
Chastain vermittelt die enorme Kraft, die ihre Figur aufwenden muss, um einfach nur durch den Alltag zu kommen und ihr Leben zu leben. Sie lässt uns die ständige Angst erleben, mit der Trauma-Überlebende auch nach Jahren und Jahrzehnten ständig zurechtkommen müssen. In einer Szene, in der zwei Menschen zum ersten Mal intim miteinander werden, lässt sie uns die Anspannung spüren und die Überwindung, die es ihrer Figur kostet, sich hinzugeben. Der Unterschied zwischen guten Schauspieler*innen und großartigen Schauspieler*innen besteht darin, dass letztere auch in schwachen Filmen glänzen können. Jessica Chastain ist eine großartige Schauspielerin.