Warum müssen dem FBI-Agenten die Informationen von der charakterlosen Frau mit Sex entlockt werden? In den Augen mancher (vor allem männlicher) Filmfans verringert das die Schuld dieses Mannes doch bloß. Warum kann die Motivation des Ermittlers nicht Frustration mit den mangelnden Fortschritten oder Unzufriedenheit mit dem Job sein? Wäre das nicht viel interessanter?
Hier soll nicht der Eindruck entstehen, die reale Kathy Scruggs hätte keine Schuld an der furchtbaren Geschichte gehabt. Aber der Film erwähnt nie die psychischen Probleme der Reporterin. Diese wurden nach dem Skandal nur schlimmer und 2001 starb Scruggs an einer Überdosis. Nichts davon wird im Film erwähnt, dabei hätte das die Geschichte bereichert. Gegen Ende des Films darf Olivia Wilde ein paar Krokodilstränen verdrücken, weil die Reporterin spät aber doch einsieht, welches Leid sie über Richard und seine Mutter gebracht hat. An der Stelle wird nicht bloß die Demütigung und Denunziation einer Verstorbenen perfekt. Hier droht der ganze Film zu kippen.
Know when to walk away …
Kommen wir wieder zu dem, was an dem Film funktioniert. Paul Walter Hauser ist in den USA als Comedian bekannt. Hier erinnert man sich vielleicht an seine großartige Nebenrolle in „I, Tonya“. Er vermeidet die naheliegende Interpretation seiner Figur und spielt den Mann, über den sich so viele lustig machen, niemals lächerlich. Er erweckt nie unser Mitleid. Am Ende bewundern wir Richard für die ruhige Kraft, die in ihm steckt.
Kathy Bates kennen wir vor allem als Annie Wilkes aus „Misery“. In den letzten 30 Jahren war sie vor allem in kleinen Rollen in großen Filmen („Titanic“) und großen Rollen in kleinen Filmen zu sehen (für ihre Leistung in „Dolores“ hätte sie einen zweiten Oscar verdient). Sie spielt Richards Mutter Bobi mit einer emotionalen Tiefe, die tief berührt. Bei der Oscarverleihung im Februar ging sie leider wieder leer aus.
Sam Rockwell hat uns zuletzt in „Jojo Rabbit“ beeindruckt. Er spielt Richards Anwalt angenehm zurückhaltend als Mann mit eigenen Problemen. In der Liebesgeschichte mit seiner Mitarbeiterin Nadya lässt er sich von ihrer Darstellerin Nina Arianda („Stan & Ollie“) regelmäßig die Show stehlen.
Über Olivia Wildes („Dr. House“) Darstellung der Reporterin Kathy Scruggs ist fast alles gesagt. Barbara Stanwyck oder Lana Turner hätten vor 75 Jahren eine solche Rolle spielen können. Olivia Wilde konnte 2020 an dieser Rolle nur scheitern.
Jon Hamm spielt nach „Brautalarm“, „The Town“, „Baby Driver“ und anderen Filmen wieder mal einen Armleuchter. Und er spielt den Armleuchter wieder ohne jede erkennbare Motivation, als reines Handlungselement. Vor allem gegen Ende des Films lässt er mehrere Gelegenheiten ungenutzt verstreichen, aus seiner Rolle etwas anderes als einfach bloß einen Armleuchter zu machen. Demnächst bekommen wir Hamm in der Fortsetzung von „Top Gun“ zu sehen. Will jemand wetten, welche Art von Rolle er in dem Film spielen wird?
Fazit
Regisseur Eastwood hat wieder einmal eine interessante Geschichte extrem hochwertig verfilmt. Leider sind wichtige Teile des Films furchtbar altmodisch und zu simpel ausgefallen und werden der Vorlage nicht gerecht.