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 Autorin: Angelika Wessbecher
 
Diese Nachbarschaft beginnt nicht sehr verheißungsvoll. Als Maggie (Melissa McCarthy), alleinerziehende Mutter des kleinen Oliver (Jaeden Lieberher), ihr neues Domizil in Brooklyn beziehen will, durchschlägt der Möbelwagen ausgerechnet den Zaun des Nachbargrundstücks. Und dieser demolierte Gartenzaun wird sich dann auch als „Running Gag“ durch den gesamten Film ziehen.
 
Geweckt durch den Knall, erscheint Vincent McKenna (Bill Murray) in der Tür seines Häuschens: unrasiert, unflätig, das Gesicht gezeichnet von den Blessuren eines Sturz nach einem Saufgelage der vorigen Nacht. Nachdem Oliver am nächsten Tag von seinen neuen Mitschülern gleich Hausschlüssel und Handy abgeknöpft werden, fasst sich jener ein Herz und sucht Hilfe bei seinem mürrischen Nachbarn. Und so avanciert Looser Vincent, der sein Geld in Pferdewetten, im Suff und mit der schwangeren Prostituierten Daka (Naomi Watts) durchbringt, unversehens zu Olivers Babysitter.

 
Die sehenswerte schwarze Komödie ist das Kinodebüt von Ted Melfie, der Drehbuchautor und Regisseur Personalunion ist (Gesamtproduktion „The Weinstein Company“ mit „Chemin Entertainment“). Der in die Rubrik „Independent“ einzuordnende Film wurde in nur 35 Tagen abgedreht.
 
Trotz aller Dramatik, Situationskomik und ziemlich abgedrehtem Humor entfaltet sich die Story gemächlich, mit ruhigen Einstellungen und liebevoller Ausstattung (Inbal Weinberg). Sie ermöglicht dem Kinozuschauer einen ungeschönten Blick auf das schäbige Lokalkolorit eines Brooklyn der kleinen Leute, jenseits der zunehmend von Neureichen übernommenen und aufgehübschten Viertel. Melfie, der selbst in Brooklyn aufgewachsen ist, zeigt den engen Radius des Hauptdarstellers zwischen Absturzkneipen, Pferderennbahn und dem Pflegeheim seiner Frau.
 
Inspiriert wurde Melfies Drehbuch durch seine Nichte, die er nach dem Tod ihrer Eltern adoptierte. Das Mädchen sollte im Religionsunterricht einen Aufsatz über einen Heiligen schreiben, der ihr Leben inspirierte und wählte „St. William von Rochester“, der als Schutzpatron der Adoptierten gilt.
 
Bill Murray (dessen komödiantische Facette in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ Filmgeschichte machte) verkörpert in “St. Vincent“ einen Saulus, in dem eigentlich ein Paulus verborgen ist. Offenbart wird dies dem Zuschauer aber erst durch den Blick des reinen und irgendwie auch heiligen Knaben Oliver, der als einziger, im Gegensatz zu den anderen Protagonisten (die allesamt sehr egozentrisch sind), die Qualitäten seines neuen Freundes zu erkennen vermag. Natürlich ist dieser Plot ein wenig kitschig. Und auf dem Höhepunkt des Films darf auch nach Herzenslust geweint werden.
 
Etwaige sentimentale Anflüge werden aber durch den Regisseur und seine turbulent agierenden Darsteller immer wieder ironisch gebrochen, mal abgesehen von den fürchterlichen Flüchen des seltsamen Heiligen. Ein besonders abstruses Detail ist ein Schild auf Vincents Haustür, das immer wieder leitmotivisch gezeigt wird.
 
„No Solicitation“ steht darauf, übersetzt etwa mit „Keine Belästigung“. Im Amerikanischen hat dies zusätzlich die Nebenbedeutung „Ansprechen durch Prostituierte unerwünscht“, ein sehr gelungener Gag, da Vincents Irgendwie-Gefährtin Daka ja gerade mit diesem Gewerbe ihr Täglich Brot verdient.
 
Der Reiz der Films lebt vom Aufeinanderprallen der Welten im Mikrokosmos Brooklyn: Der kleine Oliver, Sohn eines jüdischen Vaters, wird ausgerechnet in der katholischen Schule „St. Patrick“ angemeldet. Daka ist russischer und Vincent irischer Abstammung, die Möbelpacker fluchen auf Italienisch. Melfie bietet einen ungeschönten Blick auf das sozialdarwinistische Gesellschaftssystem der USA, das die Ärmeren geradezu zum Klauen, Zocken und sich Besaufen aufzufordern scheint, so der anarchistische Unterton des Streifens. Die Tragödien aus Vincents Leben werden langsam und wie beiläufig enthüllt. Als ihn der kleine Oliver fragt, ob er denn in Vietnam war, knurrt Vincent nur: „Weiß nicht. Hab’s vergessen.“
 
Trotz knappen Budgets erwies sich der Regisseur in der Wahl seines Hauptdarstellers als ebenso ehrgeizig wie hartnäckig. Er bekniete Megastar Murray (2002 für den Oscar in „Lost in Translation“ nominiert), der keinen Agenten hat, ein halbes Jahr lang ergebnislos mit Botschaften auf dessen Anrufbeantworter, bis dieser sich plötzlich überraschend meldete und sich für das Drehbuch zu interessieren begann. Murray gestaltet seine Filmrolle vielschichtig und facettenreich, von der Tendenz her eher verhalten, lakonisch, mit unvorhersehbaren, meist pantomimisch dargestellten Gefühlseruptionen. Sein Spiel hat etwas Federleichtes und wirkt in den besten Momenten des Films so, als würde er einfach nur so zum Spaß vor sich hin improvisieren.
 
Der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 10-jährige Jaeden Lieberher ist ein zerbrechlicher und weltweiser Junge (Der Regisseur attestierte ihm die Abgeklärtheit eines 90-Jährigen), ohne die manchmal schwer erträgliche aufgesetzte Altklugheit anderer Kinderdarsteller. Nachdem „St. Vincent“ im letzten Herbst in den amerikanischen Kinos angelaufen war, wurde er vom Fleck weg für eine weitere Filmproduktion engagiert. Er bezaubert durch seine stille Präsenz und die Qualität der Herzensöffnung. Letzteres verbindet ihn übrigens mit seinem erwachsenen, wenn auch extrovertierteren Kollegen Murray.
 
Seine übrigen Akteure hat Melfie einschichtiger angelegt, ein dramaturgischer Kniff, um den beiden Hauptfiguren genügend Raum zu lassen. Sie sind nichts desto weniger ebenfalls hochkarätig besetzt:
 
Naomi Watts („Diana“, 2013) spielt eine berechnenden Schlampe mit engem Horizont, deren Verhärtung sentimentalen Gefühlen weicht, als ihr Baby-Mädchen dann auf der Welt ist und ein Outfit, natürlich ganz in grellem Pink, verpasst bekommt.
 
Die Rolle von Olivers Mutter Maggie besetzte Melfie mit Melissa McCarthy (2012, Oscarnominierung für eine Nebenrolle in „Brautalarm) Sie verkörpert eine rechtschaffene, „schwer arbeitende“ Matrone, deren infantile Egozentrik sich im Gespräch mit Olivers Lehrern entlarvt, nachdem dieser einen Mitschüler k.o. geschlagen und damit eine der nicht kirchenkonformen Lehren seines Ersatzpapas in die Tat umgesetzt hat.
 
Sehr amüsant ist Chris O’Dowd (ebenfalls bekannt aus „Brautalarm“) in der Rolle von Olivers munter-sarkastischem Religionslehrer, der seine Lehrinhalte mit dem Verve eines Autoverkäufer vorzutragen pflegt.
 
„St. Vincent“ garantiert ein Kinoerlebnis mit Tiefgang, das dennoch richtig gute Laune macht. Mir wird der Film vor allem wegen seiner genialen Schlusseinstellung in Erinnerung bleiben: Murray sitzt vor seiner Bruchbude auf dem Gartenstuhl, nur mit einer Camouflage-Bermuda und Kopfhörern angetan, und raunzt einen Antikriegs-Song von Bob Dylan mit. Dabei wässert er, lässig mit dem Gartenschlauch jonglierend (noch mal Improtheater pur!), eine völlig abgestorbene Pflanze und steckt wie beiläufig ein winziges US-Fähnchen dazu. Gott rette Amerika!